HALFPIPE? SHAUN WHITE. DER US-AMERIKANER HAT 3x OLYMPISCHES GOLD AUF DEM SNOWBOARD GEWONNEN. UND ZEIGTE AUCH AUF DEM SKATEBOARD, DASS ER MIT EINEM „VERTICAL LIMIT“ NICHT BESONDERS VIEL ANFANGEN KANN.

 

„In der Halfpipe habe ich ein überwältigendes Vertrauen in mich selbst“. – So sagt es Shaun White, Superstar auf Snowboard und Skateboard, König der Halfpipe.

Ich traf den US-Amerikaner am Rande der Dew Tour Finals in Las Vegas im Oktober 2010, wo die Veranstalter eine mächtige Skateboard-Halfpipe in einem Swimmingpool des Hard Rock Hotels platziert hatten.

Es war spannend, Shaun White zu beobachten, als er sich auf den Wettkampf vorbereitete. Mehrere Fahrer standen oben auf dem Table, um abwechselnd in die Halfpipe zu droppen. Man stimmte sich ab, ließ sich gegenseitig den Vortritt. Nur einer drängelte sich immer wieder dazwischen, konnte es nicht erwarten, ein weiteres Mal zu fahren: White hatte zweifellos die wenigsten Freunde auf dieser Halfpipe und sorgte für wiederholtes Kopfschütteln unter seinen Konkurrenten. Dafür verbrachte er mit Abstand die meiste Zeit auf dem Skateboard. Den Wettkampf gewann er.

»Ich glaube an meine Fähigkeiten. An sich zu zweifeln macht die Dinge nur schwieriger.«

Shaun White

Beim Interview in einem Konferenzraum des Hotels zeigte sich der außerordentliche Stellenwert des Sportlers. Alle waren sie da, von ESPN über LA Times bis Bravo. Für jedes Medium standen fünf Minuten handgestoppter Gesprächszeit zur Verfügung. Als Europäer musste ich mir meine Zeit mit zwei weiteren Journalisten teilen.

Was mich besonders interessierte, war die Tatsache, dass die Funsportarten Skateboarden und Snowboarden bei Shaun White so früh zum knallharten Business wurden. Dank Sponsorenverträgen ist er seit seinem 14. Lebensjahr Millionär, mit 24 Jahren bereits zweimaliger Olympiasieger. Baut das bei allem Spaß nicht einen ziemlichen Druck auf?

„Das kann man so sagen. Die Leute erwarten nicht nur Siege, sondern vor allem immer wieder neue spektakuläre Sprünge und Manöver. Aber der Druck hilft mir dabei, mich zu konzentrieren, zu pushen und meine beste Leistung abzurufen. Ich springe und lande deutlich besser, wenn ich muss.“

Dass er unter Druck am besten ist, hat er immer wieder auf beeindruckende Weise unter Beweis gestellt. Bei den X-Games gewann er mit Snowboard und Skateboard insgesamt fünfzehnmal Gold. Was macht Shaun White so erfolgreich?

„Ich glaube an meine Fähigkeiten. An sich zu zweifeln macht die Dinge nur schwieriger. Außerdem versuche ich im Training, meine Tricks so weit wie möglich zu perfektionieren. Das gibt mir Sicherheit. Ich möchte sehen, was möglich ist. Und zeigen, was getan werden kann. Inzwischen habe ich schon viele Tricks gestanden, die wir früher gar nicht für technisch möglich gehalten haben.“

Ein Trick, der 2010 für Aufsehen in der Snowboard-Szene sorgte, war der Double McTwist 1260. Dabei werden ein Vorwärtssalto und ein Rückwärtssalto mit dreieinhalb Schrauben kombiniert.

„Das Problem an diesem Sprung sind die ersten Versuche. Sie flößen dir eine verdammte Angst ein. Du gehst vom Frontflip direkt in den Backflip über. Deshalb kannst du fast nicht sehen, wo du dich in der Luft befindest. In dem Augenblick, der dir einen kurzen Überblick verschafft, änderst du schon wieder die Richtung und fliegst blind durch die Luft.“

Shaun White verpasste dem Sprung den Spitznamen „Tomahawk“. Dies geht auf eine Begebenheit in einem Restaurant zurück, als er seinen Tischgenossen die Komplexität des Tricks verdeutlichte, indem er mit einem zuvor servierten Tomahawk-Steak hantierte.

Der Superstar präsentierte den spektakulären Sprung erstmals bei einem Grand Prix in Park City. Eine Woche später wollte er den Trick, den er zu dieser Zeit als einziger Athlet weltweit beherrschte, bei den Winter X-Games zeigen. Das kostete ihn beinahe Kopf und Kragen.

„Es war ein Trainingslauf, der immer wieder verschoben wurde, weil ESPN die Verlängerung eines Basketballspiels zeigen musste. Ich habe die Konzentration verloren, beim Absprung war ich dann viel zu locker. Diesen Sprung springst du nicht einfach so aus der Hüfte raus. Diese Lektion musste ich auf schmerzhafte Weise lernen. Ich hätte mir das Genick brechen können. Ich habe die Kante auf mich zukommen sehen und noch versucht, die Hände schützend vors Gesicht zu reißen.“

Dafür war es aber schon zu spät. Die Wucht des Aufpralls riss ihm den Helm vom Kopf. Und was machte Shaun White? Er schüttelte sich und studierte in der Pause bis zum Wettkampf minutenlang in Zeitlupe die Szene, in der sein Schädel auf den eisharten Rand der Halfpipe kracht.

Im Finale packt er den Sprung dann direkt wieder aus. Diesmal steht er den Tomahawk. Höchstwertung. Und das nächste Gold bei den X-Games.

»Es ist, als würde ich beim Einfahren in die Halfpipe bereits wissen, dass ich meine Tricks landen werde. Als ob ich es schon getan hätte. Nur, dass ich es noch tun muss.«

Shaun White

Wie nahe Crash und Triumph zusammen liegen, zeigt sich ein weiteres Mal, als Shaun White im Oktober 2017 beim Training in Neuseeland auf dem Rand der Halfpipe aufschlägt. Der Meister kniet blutend im Schnee. Sein Gesicht muss mit 62 Stichen genäht werden.

 

 

Im Februar 2018 steht er im Finale der Olympischen Spiele von Pyeongchang als letzter Läufer oben an der Halfpipe. Das japanische Wunderkind Ayumu Hirano hat mit einer perfekt inszenierten Double-Cork-1440-Kombo vorgelegt. Mehr geht derzeit nicht. Shaun White muss nachlegen. Mit einem Sprungelement, das Wochen zuvor fast das Ende seiner Karriere bedeutet hätte. Zum ersten Mal zeigt er ebendiese Kombination aus zwei aufeinanderfolgenden Doppelsaltos mit jeweils vier Schrauben. In einem der spektakulärsten Runs aller Zeiten. Und wird zum dritten Mal Olympiasieger.

Wieder kniet der Meister im Schnee. Diesmal hat er Freudentränen in den Augen.

„Gedanken an eine Verletzung dürfen dich nicht belasten. Sie können dazu führen, dass am Ende wirklich etwas schief geht. Wir steigen auch in ein Auto. Es ist gefährlich, das wissen wir. Und trotzdem tun wir es jeden Tag wieder. Ich kann einen extremen Run in der Halfpipe hinlegen, danach passe ich nicht auf und falle die Treppe runter.“

Verletzungen abzuhaken, ist die eine Sache. Cool zu bleiben die andere. Aber wie fühlt es sich an, ein derart unerschütterliches Vertrauen in die eigene Stärke zu haben? Was geht da vor sich, im Kopf des Shaun White? – „Es ist, als würde ich beim Einfahren in die Halfpipe bereits wissen, dass ich alle meine Tricks landen werde. Als ob ich es schon getan hätte. Nur, dass ich es noch tun muss.“

Interview by Axel Rabenstein, published in DIE WELT 19.10.10; Berliner Morgenpost 19.10.10; TOPTIMES 1/2011

 

SHAUN WHITE WURDE AM 3. SEPTEMBER 1986 IN CARLSBAD (KALIFORNIEN) GEBOREN. DER US-AMERIKANER WAR BEREITS MIT 16 JAHREN WELTRANGLISTEN-ERSTER IM SNOWBOARD-SLOPESTYLE, IN DER SAISON 2005/2006 GEWANN ER JEDEN WETTBEWERB, AN DEM ER TEILNAHM. BEI DEN OLYMPISCHEN SPIELEN IN TURIN (2006), VANCOUVER (2010) UND PYEONGCHANG (2018) HOLTE ER JEWEILS GOLD IN DER SNOWBOARD-HALFPIPE. SHAUN WHITE IST 15-FACHER GOLDMEDAILLEN-GEWINNER BEI DEN X-GAMES, ER HAT ZAHLREICHE NEUE SPRÜNGE UND KOMBINATIONEN ALS ERSTER RIDER IN WETTKÄMPFEN GEZEIGT – SOWOHL AUF SNOWBOARD ALS AUCH SKATEBOARD.

WWW.SHAUNWHITE.COM

 

Photos: DEW Tour Las Vegas 2010; Adam Moran, Fred Mortagne / Red Bull Content Pool