DIESER MANN IST ÜBER ALLE BERGE UND DOCH SO PRÄSENT: IM INTERVIEW SPRICHT REINHOLD MESSNER ÜBER DEN REIZ VON WIDERSTÄNDEN, ÜBER ZERBRÖSELTE BERGE UND ÜBER DAS, WAS ER NIE GELERNT HAT – DAS SCHWIMMEN.

 

Herr Messner, worin liegt die Faszination der Berge?

Das ist individuell verschieden. Jeder Mensch hat seine eigenen Gründe, eine besondere Beziehung mit den Bergen einzugehen. Es gibt so viele Motivationen Bergzusteigen, wie es Menschen gibt, die Berge besteigen.

Sie selbst sind in einem kleinen Tal in Südtirol geboren. Hat sich hier der Drang entwickelt, so hoch wie möglich zu klettern… um die Enge der Jugend zu verlassen?

Das kann man so sagen. Bei uns gab es weder ein Schwimmbad noch einen Fußballplatz. Das Klettern war das Einzige, was es zu tun gab. Und so bin ich mit fünf Jahren schon auf den ersten Dreitausender gestiegen.

Angeblich sind Sie als Kind auch auf die zehn Meter hohe Friedhofsmauer geklettert?

Da war ich neun oder zehn. Auf die Mauer zu steigen war natürlich verboten, aber genau das hat uns gereizt. Weil es gefährlich war.

 

 

Die Gefahr ist ein wichtiger Aspekt beim Klettern. Muss ein Berg gefährlich sein, damit er seinen Reiz ausübt?

Ein Berg ist entweder gefährlich oder es ist kein Berg. Wer glaubt, er könne die Berge ungefährlich machen, der muss die Berge leider ruinieren. Ein Berg ist eine hohe, geologische Formation, eine lebensfeindliche Umgebung. Es gibt nun einmal die Schwerkraft, und wenn sich hoch oben ein Stein löst, dann bedroht er denjenigen, der von unten nach oben steigt. Das Gleiche gilt für den Schnee, für die Lawinen, für den Eisschlag. Je höher ich steige, desto stärker sind die Winde, desto kälter wird es, desto geringer ist die Konzentration an Sauerstoff. Mit einem Berg ist für den Menschen immer eine Gefahr verbunden. Leider haben in letzter Zeit viele so genannte Experten den Menschen suggeriert, man könne die Berge sicher machen. Damit ist eine große Gefahr entstanden. Die Menschen denken, es könne nichts mehr passieren und dann stolpern sie völlig naiv in den Tod.

So wie auch der Mount Everest zum touristischen Ziel geworden ist …

Der Mount Everest wird jedes Jahr zu einer Art sicheren Zone gemacht. Genauso der K2. Man baut eine Piste auf den Berg, um Aufstieg und Abstieg zu erleichtern. Das wird so gut vorbereitet, dass man jeden Menschen auf den Everest führen kann, wenn er die Kälte und die Anstrengung erträgt. Für die Piste zahlt man eine Durchgangsmaut, wie auf der Autobahn. Ich habe ja nichts gegen Tourismus, für alpine Länder ist es eine großartige Möglichkeit sich wirtschaftlich zu entwickeln. Aber Alpinismus beginnt dort, wo der Tourismus endet, der Alpinismus ist die Auseinandersetzung mit dem Berg als Gefahrenraum.

»Bergsteigen ist die Kunst, dort hinzugehen, wo man umkommen müsste, um nicht umzukommen.«

Reinhold Messner

Warum bringt man sich gezielt in Gefahr?

Auch hier mag es wieder subjektive Gründe geben. Gottfried Benn hat einmal gesagt: Bergsteigen ist am Tod provoziertes Leben. Das ist schon schizophren. Wir Bergsteiger suchen ein intensives Lebensgefühl über die Möglichkeit umzukommen. In meinen Worten: Bergsteigen ist die Kunst, dort hinzugehen, wo man umkommen müsste, um nicht umzukommen. Wenn ich a priori nicht umkommen kann, ist das Bergsteigen keine Kunst und somit auch kein Bergsteigen mehr.

Ist in solchen Grenzsituationen die Angst ein ganz wesentlicher Faktor?

Bei der Angst kommen die instinktiven menschlichen Kräfte zum Tragen. Die Angst sagt mir: Bis hier her und nicht weiter! Dieser Überlebensinstinkt ist unser wichtigster Helfer.

Sie haben einmal gesagt, die Angst habe verschiedene Farben.

Es gibt verschiedene Ängste. Die Angst kann im Vorfeld kommen, lange bevor ich losgehe. Wenn ich in meinem Bett liege und über eine Expedition nachdenke, gibt es keinen Grund, nicht einzuschlafen. Ich liege trotzdem wach. Weil ich Angst habe, am Everest könnte mich eine Lawine erwischen oder mein Kocher kaputt gehen. Ich muss mich auf alle Gefahren vorbereiten, die auf mich zukommen könnten. Dann werden diese Ängste nachlassen.

Und die konkrete Angst in der Wand?

Diese Angst löst sich normalerweise mit dem Steigen auf. Was ich meinen Ängsten entgegensetzen kann, ist meine Aktivität. Mein Tun, mein Können und meine Erfahrung. Ich darf nicht warten. Beim Warten sind die Ängste größer und schlimmer als während einer Aktion. Setze ich der Angst aber meine Sicherheit entgegen, löst sie sich auf. Dann kann ich vollkommen konzentriert klettern. Den Rest der Welt gibt es nicht mehr. Mein Kosmos reduziert sich auf die Stellen, an denen meine Hände und Füße mit dem Berg verbunden sind. Mensch und Fels sind eins, es gibt keinen Zweifel mehr, alles ist im Fluss. Und in diesem Fluss steigt es sich leichter, so entstehen Erfolge, über die andere Menschen nur den Kopf schütteln können.

Trotzdem kann immer etwas passieren. Eine kleine Unachtsamkeit, ein Fehltritt. Kommt die Angst dann nicht mit aller Macht zurück?

Das ist dann keine Angst mehr, sondern ein Schrecken. Die Reaktion ist instinktiv und somit die bestmögliche. Instinktiv reagieren wir meistens richtig. Aber nur, wenn wir uns über Jahre hinweg mit dieser Materie auseinander gesetzt haben und wirkliche Könner geworden sind.

 

»Ich bin ein Rebell. Ich werde am stärksten, wenn man mir Widerstände entgegen setzt.«

Reinhold Messner

Sie haben Erfahrungen auf mehr als 3.500 Bergtouren gesammelt, Ihre Expeditionen haben aber auch körperliche Spuren hinterlassen, sieben Zehen und drei Finger mussten in Folge von Erfrierungen ganz oder teilweise amputiert werden. Warum setzen Sie sich seit 60 Jahren diesem Stress aus?

Ich bin ein Rebell. Ich werde am stärksten, wenn man mir Widerstände entgegen setzt. Daran wachse ich. Deshalb habe ich in meinem Leben immer wieder neue Aufgaben und Widerstände gesucht. In ganz unwichtigen Sparten, ich bin ja generell der Eroberer des Nutzlosen. Ich bilde mir nicht ein, ich hätte etwas Wichtiges gemacht. Aber ich habe gelernt, nicht zu verzweifeln, wenn es unmöglich erscheint. Erfolgreich bin ich nur durch das Scheitern geworden. Ich bin öfters als andere wieder aufgestanden, wenn ich am Boden lag.

Am Ende wurden Sie von Ihrer Energie auf alle Achttausender getrieben. Jeder hat seinen eigenen Charakter. Welche drei Berge würden Sie als die herausragenden Persönlichkeiten beschreiben?

Den K2, den Dhaulagiri und den Nanga Parbat.

Warum?

Der K2 hat eine fantastische Form. Außerdem ist er wohl der schwierigste Achttausender. Seine Besteigungsgeschichte ist unglaublich spannend. Der Dhaulagiri hat eine eindrucksvolle Südwand, an der ich leider gescheitert bin. Ich habe dann eine andere Route geklettert. Er ist der erste Berg, der sichtbar wird, wenn man von Süden an den Himalaya heranreist. Und der Nanga Parbat hat einfach alles. Die höchste Wand der Welt, die Südwand, die ich erstmals durchstiegen habe. Der Nanga Parbat steht extrem, in einem Erdbebengebiet, im westlichen Eckpfeiler, siebentausend Meter über dem Industal. Als ich diesen Berg das erste Mal gesehen habe, dachte ich, so einen Berg könne es gar nicht geben…

Glaubt man beim Anblick des Nanga Parbat an das Göttliche?

Für so etwas bin ich zu realistisch. Wenn eines Tages ein Meteorit mit einem Durchmesser von drei Kilometern auf der Erde einschlägt, reicht das aus, um die Menschheit zu vernichten. Ich denke, mit ihr verschwänden dann auch alle Götter, die je von ihr erfunden wurden. Trotzdem haben Berge eine divine Dimension, das ist unbestritten. Viele Religionen sind in den Bergen entstanden. Moses kommt mit den zehn Geboten vom Sinai, Buddha meditiert im Himalaya, Milarepa steigt auf den Kailash. Es ist nur logisch, sich als Mensch mit einem mächtigen Berg gegen das Jenseitige zu verknüpfen, auch ohne dabei eine rationale Antwort zu finden. Religionen sind immer nur emotionale Antworten auf die großen Fragen. Dass einige geniale Menschen Antworten auf solche Fragen gegeben haben, sei ihnen verziehen.

 

»Das Leben fängt an – und hört auf.«

Reinhold Messner

Nach den Bergen hat es Sie in andere extreme Regionen gezogen, in die Wüste Gobi oder die Antarktis. Suchen Sie an diesen lebensfeindlichen Orten die ultimative Einsamkeit?

Nein, ich suche nicht die Einsamkeit. Sie ist die Folge meiner Aktivitäten. An den großen Bergen hätte ich mich nur noch wiederholen können. Deshalb habe ich Polarregionen und Wüsten aufgesucht, die auch nichts anderes als Berge sind. Die Antarktis ist der größte Berg der Welt, nicht der höchste aber der größte. Sie gehen 1.500 Kilometer vom Meer auf einen viertausend Meter hohen Eisrücken und auf der anderen Seite wieder hinunter zum Ozean. Das ist die größte Eismasse dieser Erde. Und eine Wüste ist ja nichts anderes als ein zerbröselter Berg.

Was haben Sie in den Wüsten gefunden?

Ich habe dort ähnliche Erfahrungen gemacht, wie bei der Bergsteigerei, nur dass es keinen Gipfel gibt. Der Gipfel ist aber nicht so wichtig, das ist was für Spießbürger. Es geht eben nicht aufwärts, sondern vorwärts in die Unendlichkeit. Für mich waren diese Regionen die einzige Möglichkeit, weiterhin in eine unbekannte, geheimnisvolle Welt vorzustoßen.

Wenn es weniger extrem sein soll: Was könnten für gewöhnliche Bürger lohnende Ziele sein, vielleicht gleich hier in den Alpen?

Die Alpen haben Platz für alle Europäer, die Lust haben zu wandern, zu klettern oder bergzusteigen. Aber die Leute sollen einsehen, dass sie nicht dort hingehen, wo alle anderen schon sind. In die Modegebiete. Dort ist Lärm, dort ist Hektik. Dort haben die Berge ihre Ausstrahlung verloren. Natürlich kann man auch nicht von heute auf morgen auf den Mont Blanc oder das Matterhorn steigen. Das ist nur in kleinen Schritten lernbar. Aber wenn jemand wenig Zeit und wenig Geld hat, dann reichen ein paar Wanderschuhe, eine Windjacke, ein Rucksack, ein Stück Brot und etwas Käse für einen wundervollen Tag in den Bergen vollkommen aus. Es gibt keine gesündere Tätigkeit, als in die Berge zu gehen. Mit ein paar Freunden, mit dem eigenen Herzrhythmus. Das ist der Urlaub der Zukunft: Kostet nicht viel und entlastet die Sozialkassen, weil die Menschen gesünder sind. Das bürgerliche Wandern ist ein wahrer Gesundbrunnen.

Was würde uns sonst noch gut tun?

Wir haben die Verpflichtung, der nächsten Generation mitzuteilen, dass sie das Recht hat, sich die gesamte Welt neu zu erfinden. So wie wir die Welt organisiert haben, muss sie für unsere Kinder nicht in Ordnung sein. Deshalb braucht es immer wieder Wertediskussionen. Ich denke, ein Wert, der neu gesetzt werden müsste, ist der Verzicht. Nicht als Kasteiung, sondern als Wert. Ich verzichte und das macht mir eine riesige Freude. Weil ich verzichten kann. Wir können nicht mit sieben Milliarden Menschen oder noch mehr unseren derzeitigen Lebensstandard aufrechterhalten. Das gibt die Erde nicht her. Aber wir könnten die Lebensqualität erhöhen, indem wir lernen, auf bestimmte Sachen zu verzichten. Das war es auch, was ich immer getan habe. Ich habe auf Seilsicherung verzichtet, auf Sauerstoffgeräte. So hat es mir viel mehr Befriedigung gegeben, als mit 20 Sherpas unterwegs zu sein, die mir in der Früh den Tee kochen.

Ihr ganzes Leben war eine Bergtour. Auf welchem Abschnitt befinden Sie sich nun?

Das Leben fängt an – und hört auf. Als Kind kann ich nicht allzu hoch steigen, in der Mitte des Lebens habe ich die größte Kraft für die höchsten Gipfel, und wenn ich älter werde, werden die Berge plötzlich größer. Ich hatte lange Zeit ein Problem damit, einzusehen, dass das, was ich gemacht habe, vorbei ist. Heute macht es mich stark und ich begnüge mich mit angenehmen Wanderungen.

Bleibt noch eine Kleinigkeit zu klären: Sie können wirklich nicht schwimmen?

Das ist richtig. Bei uns im Tal gab es kein Schwimmbad. Und zu den Gebirgsseen bin ich erst gekommen, als ich zwanzig Jahre alt war. Aber da war ich schon so fasziniert, so besessen vom Klettern, dass ich mir niemals die Mühe gemacht hätte, einen Tag lang an einem See herumzuliegen.

Wäre das noch eine Herausforderung? Durch einen klaren Bergsee zu schwimmen?

Meine Tochter hat gesagt, das bringe sie mir noch bei, aber ich glaube nicht, dass ich das Schwimmen lernen werde. Das muss ich auch nicht. Die Berge waren und sind faszinierend genug.

Interview by Axel Rabenstein, published in TOPTIMES 4/2010

 

REINHOLD MESSNER WURDE AM 17.9.1944 IN PITZACK IM VILLNÖSS-TAL (SÜDTIROL) GEBOREN. MIT 20 JAHREN HAT ER BEREITS MEHR ALS 500 BERGTOUREN IN DEN OSTALPEN UND DEN DOLOMITEN HINTER SICH. 1970 BESTEIGT ER DEN 8.125 METER HOHEN NANGA PARBAT ÜBER DIE BIS DAHIN UNBEZWUNGENE RUPALFLANKE. SEIN BRUDER GÜNTHER KOMMT BEIM ABSTIEG IN EINER LAWINE UM, MESSNER SELBST ÜBERLEBT MIT SCHWEREN ERFRIERUNGEN. IM JAHR 1978 ERREICHT ER DEN GIPFEL DES MOUNT EVEREST (8.848 METER) ALS ERSTER MENSCH OHNE DIE HILFE VON SAUERSTOFFGERÄTEN. ES FOLGEN EXPEDITIONEN NACH TIBET UND NEPAL, VON AUGUST BIS OKTOBER 1986 BESTEIGT MESSNER MIT PARTNERN DEN MAKALU (8.463 METER) UND DEN LHOTSE (8.501 METER). DAMIT IST ER DER ERSTE BERGSTEIGER, DER ALLE 14 ACHTTAUSENDER BEZWUNGEN HAT. SPÄTER STARTET ER EXPEDITIONEN IN WÜSTEN UND POLARREGIONEN, DURCHQUERT U. A. ZU FUSS DIE ANTARKTIS. VON 1999 BIS 2004 SASS ER FÜR DIE ITALIENISCHEN GRÜNEN ALS ABGEORDNETER IM EUROPAPARLAMENT, ER HAT ZAHLREICHE STIFTUNGEN INS LEBEN GERUFEN UND MEHR ALS 50 BÜCHER VERÖFFENTLICHT. REINHOLD MESSNER HAT DREI TÖCHTER UND EINEN SOHN, ER LEBT IN ZWEITER EHE IN DER NÄHE VON MERAN (SÜDTIROL).

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Photos: Reinhold Messner; Pixabay