WENN DAS GELD NICHT FÜR EIN ZIMMER REICHTE, SCHLIEF ER IM WALD. UND WENN MAL WIEDER SEIN KREUZBAND RISS, DANN KÄMPFTE ER SICH EBEN ZURÜCK: IVICA KOSTELIC HAT ALLES GEGEBEN – FÜR SEINEN SPORT UND SEINE LEIDENSCHAFT.
Ivica, mit 18 Jahren wurdest du überraschend für die Olympischen Winterspiele 1998 in Nagano nominiert. Wenige Tage vor der Abreise brach im Training deine Kniescheibe. War das der Schock deines Lebens?
Als ich damals erfuhr, dass ich operiert werden musste, dachte ich in der Tat, es wäre das Ende der Welt. Dabei war es nur der Anfang einer Serie von schweren Verletzungen, die meine frühe Karriere geprägt haben. Und längst nicht das Ende der Welt.
Die beiden folgenden Jahre hast du dir zweimal das Kreuzband im rechten Knie gerissen. Hattest du damals nicht das Gefühl, da sei irgendetwas gegen dich?
In erster Linie war ich verwirrt, weil ich die Logik dahinter nicht verstand. Ich hatte damals schon so viel in das Skifahren investiert. Die meisten meiner Freunde waren auf Partys unterwegs, während ich mich voll und ganz auf das Training konzentrierte. Dann kamen diese Verletzungen, und ich war einfach nur tief enttäuscht. Es gibt ein Sprichwort: Du erntest, was du säst. Ich war der festen Überzeugung, dass es zutrifft. Nun musste ich erleben, dass es nicht der Wahrheit entsprach. Jedenfalls nicht zu dieser Zeit. Und das machte mir wirklich zu schaffen.
Trotzdem hast du niemals aufgegeben. Obwohl du bis heute acht Mal am Knie operiert wurdest. Wie war es möglich, immer wieder zurückzukommen?
Weil es meine tiefe Überzeugung war und auch immer noch ist, dass es Gerechtigkeit gibt. So funktioniert die Welt. Wer sich anstrengt, wer alles gibt – der wird dafür belohnt werden. Ich hatte immer genug Motivation, weil ich liebte, was ich tat.
»Ich habe mich für den Weg des Herzens entschieden und wurde mit intensiven Erfahrungen und Gefühlen belohnt.«
Ivica Kostelic
Die Engländer nennen das Passion. Im Deutschen sagt man Leidenschaft. Ein Wort, das die Bedeutung schon in sich trägt. Man muss bereit sein, für das Erreichen seiner Ziele zu leiden.
Das passt gut zu meiner Karriere. Ich habe gelitten, und es war nicht immer einfach. Weil ich den Weg des Herzens gewählt habe.
Den Weg des Herzens?
Ja, so sehe ich das. In Wahrheit führen alle Wege dieser Welt ins Nichts. Aber du hast die Wahl, welchen dieser Wege du beschreiten möchtest. Der Weg, den du mit deinem Herzen gehst, macht dich reich. Er macht dich glücklich und erfüllt dich auf besondere Art und Weise. Dennoch wählen viele Menschen den Weg, den sie auch ohne Leidenschaft gehen können. Ich weiß nicht, warum sie das tun. Vielleicht wegen des Geldes. Oder weil es ihnen leichter erscheint. Aber dieser Weg beraubt sie ihrer Stärke. Ich selbst habe mich für den Weg des Herzens entschieden und wurde mit vielen intensiven Erfahrungen und Gefühlen belohnt, die mich mein ganzes Leben lang begleiten werden.
Dein Weg war auch der Weg deines Vaters Ante. Er hat dich und deine Schwester Janica von Kindesbeinen an auf eine spätere Profi-Karriere vorbereitet. Er folgte der Theorie des früheren Gewichthebers und Sportwissenschaftlers Alexei Medwedew. Es gab immer wieder Kritik, das Training sei zu hart gewesen.
Mein Vater war in der Tat stark von der russischen Sportphilosophie beeinflusst. Er hat aber auch andere moderne Methoden berücksichtigt, zum Beispiel aus den USA. Wir orientierten uns nicht nur am sowjetischen Ansatz, das wäre auch gar nicht möglich gewesen, denn diese Idee beruht auf einer großen Anzahl von Teilnehmern, sie verlässt sich auf Zahlen und Wahrscheinlichkeit. Die Schwachen werden durch hartes Training eliminiert. Übrig bleiben die Starken. So werden Sieger produziert. Wir waren aber keine riesige Gruppe an Nachwuchssportlern, sondern zu zweit. Meine Schwester und ich. Wir hatten keinen Ersatz. Mein Vater konnte uns also gar nicht verheizen, so wie manche Kritiker es ihm unterstellten.
»Du kannst immer gewinnen, immer etwas lernen.«
— Ivica Kostelic
Trotzdem hatte euer Vater das klare Ziel, seine Kinder bis in die Weltelite zu führen. Bestand nicht die Gefahr, dass ihr diesem Druck eines Tages nicht mehr standhalten könnt?
Mein Vater hat mich trainiert, seitdem ich zehn Jahre alt war. Das ganze Gewicht der Entwicklung lastete in der Tat auf den Schultern von uns Kindern. Wir haben hart trainiert, um unser Ziel zu erreichen. Aber wir haben das Skifahren immer geliebt. Und genau deshalb waren wir am Ende erfolgreich.
Was waren die entscheidenden Faktoren eures Trainings?
Wir waren vor allem sehr diszipliniert. Mein Vater sagte zum Beispiel, ein Sportler müsse jeden Tag acht bis zehn Stunden schlafen. Also haben wir geschlafen. Jeden Tag, egal wo wir waren. Das ist anstrengend, wenn du es über Jahre hinweg durchhalten möchtest. Mit elf Jahren ist es nicht so schwer, die Disziplin zu halten und jeden Tag um neun Uhr abends ins Bett zu gehen. Aber wenn du mit 20 oder 30 Jahren immer noch jeden Tag um neun ins Bett gehst, dann kommst du dir schon ein wenig komisch vor.
Eure Disziplin hat euch auch auf den Berg getrieben, wenn der Liftbetrieb wegen schlechten Wetters eingestellt wurde…
Es gab Zeiten wie diese, das ist richtig. Aber du musst auch das in die rechte Perspektive rücken. Mit siebzehn Jahren bekam ich meinen ersten Sponsor. Bis dahin waren wir komplett auf uns alleine gestellt. In Kroatien gab es kein System für den Skirennsport. Wir waren das System und hatten keine finanzielle Unterstützung. Sind wir zum Berg gekommen, wollten wir unsere Zeit auch nutzen! Also sind wir Ski gefahren, egal bei welchen Bedingungen.
Auch dann, wenn die Bedingungen so schlecht waren, dass man kaum noch was gesehen hat?
Es gibt keine schlechten Bedingungen. Es gibt nur verschiedene Bedingungen. Und du kannst immer gewinnen, immer etwas lernen. Schlechte Sicht ist zum Beispiel gut für die Balance. Und gerade bei harten Bedingungen erwacht der wahre Sportler in dir. Das ist eine Frage von Sportsgeist. Wir mussten jahrelang darum kämpfen, trainieren zu können. Und das haben wir sehr beständig getan.
»Du erntest, was du säst.«
— Ivica Kostelic
Weil euch das Geld für eine Pension fehlte, habt ihr oft im Auto übernachtet. Es heißt, ihr hättet sogar Hütten im Wald gebaut, um darin zu übernachten. Ist das wahr?
Nein, es waren keine Hütten. Es waren eher Unterstände aus Holz, die wir uns gebaut haben. Aus ein paar Zweigen oder Schnee.
Ihr habt wirklich im Freien geschlafen? Im Winter? Mit Schlafsack am Lagerfeuer?
Ja, wir hatten Schlafsäcke. Wenn möglich, haben wir auch ein Feuer angezündet. Aber wir waren gut ausgerüstet für diese Art von Abenteuer. Du musst meine Familie kennen, um das zu verstehen. Sie war schon immer sehr naturverbunden.
Erinnert mich an deinen Ski-Kollegen Bode Miller. Der ist in einer Blockhütte im Wald aufgewachsen. Ohne Strom und fließend Wasser…
Ja, das ist cool. Es gibt dir eine andere Sicht auf das Leben. Gerade dieser Hintergrund hat Bode zu dem gemacht, was er ist – ein bewundernswerter Kerl mit einer großen Persönlichkeit.
Nach Jahren des harten Trainings kam schließlich der große Tag: Am 25. November 2001 hast du mit dem Slalom in Aspen deinen ersten Weltcup gewonnen. Mit der Startnummer 64, der höchsten Startnummer, mit der jemals ein Slalomsieger gestartet ist. War das der Tag, an dem du endlich die Bestätigung erhalten hast, dass die Welt doch gerecht ist?
Niemand hatte damit gerechnet. Wir haben viele Leute überrascht. Und für mich war es wie eine Erlösung, dass dieses Sprichwort doch seine Richtigkeit hat: Du erntest, was du säst.
Ein Jahr später wurdest du zum Sportler des Jahres in Kroatien gewählt. Deine Schwester zur Sportlerin des Jahres und dein Vater zum Trainer des Jahres. War das die offizielle Bestätigung dafür, dass ihr das Richtige getan habt?
Nicht wirklich. Die offizielle Bestätigung gibt es nur im Wettkampf. Nichts anderes zählt. Alles andere ist schön, aber nicht entscheidend.
»Ich will am Meer sein und beobachten, wie es im Winter aussieht. Dazu hatte ich nie die Gelegenheit.«
Ivica Kostelic
Dann kam die Bestätigung wohl erst 2011, als du den Gesamt-Weltcup gewonnen hast. Was hat diesen späten Erfolg am Ende möglich gemacht?
Zu Beginn meiner Karriere war ich dauernd verletzt. Ich habe viel Zeit im Krankenhaus verbracht. Wir beschlossen, für einige Jahre nicht in den schnellen Disziplinen anzutreten und uns ausschließlich auf Slalom und Riesenslalom zu konzentrieren. Erst für die Olympischen Spiele in Turin haben wir die Abfahrt wieder in Angriff genommen, um an der Kombination teilzunehmen. Zwischenzeitlich musste ich mich noch einmal einer Meniskusoperation unterziehen, aber in der vergangenen Saison hatte ich endlich mal keine größeren gesundheitlichen Probleme.
Wäre dieses fantastische Jahr nicht ein guter Anlass gewesen, die Karriere zu beenden? Dein rechtes Knie muss schließlich die ganze Saison über medizinisch betreut werden, damit es überhaupt noch hält.
Ich liebe, was ich tue. Das ist es, was mich nach vorne treibt. Ob Verletzungen oder nicht, ob Erfolg oder nicht – ich will da oben auf dem Berg sein und die Freiheit des Skifahrens auskosten.
Und vielleicht doch noch den Heim-Slalom vor der begeisterten Menge in Zagreb gewinnen?
Das wäre ein Traum. Es ist nicht einfach, aber ich will es versuchen. Und ein paar Versuche habe ich ja noch…
Und nach deiner Karriere? Was wird dann die Leidenschaft des Ivica Kostelic entfachen?
Ich liebe es, zu tauchen und mit der Harpune Fische zu jagen. Nach meiner aktiven Karriere werde ich sofort an die Küste ziehen. Ich will den ganzen Winter am Meer sein und beobachten, wie es zu dieser Jahreszeit aussieht. Dazu hatte ich nie die Gelegenheit.
Interview by Axel Rabenstein, published in TOPTIMES 6/2011
IVICA KOSTELIĆ WURDE AM 23. NOVEMBER 1979 IN ZAGREB (KROATIEN) GEBOREN. MIT 22 JAHREN GEWANN ER IN ASPEN SEIN ERSTES WELTCUP-RENNEN UND DEN SLALOM-WELTCUP (2001/2002). IM JAHR 2003 WURDE ER SLALOM-WELTMEISTER IN ST. MORITZ. BEI DEN OLYMPISCHEN SPIELEN 2006 IN TURIN HOLTE ER SILBER IN DER KOMBINATION, 2010 IN VANCOUVER GEWANN ER ZWEI SILBERMEDAILLEN. IM JANUAR 2011 SAMMELTE ER 999 WELTCUP-PUNKTE UND GEWANN ÜBERLEGEN DEN GESAMTWELTCUP. IN SOTSCHI HOLTE ER 2014 SEINE VIERTE OLYMPISCHE SILBERMEDAILLE.
Photos: SALOMON; Alamy; Free-Photos / Pixabay