HERBERT RANGGETINER HAT EINIGE DER ANSPRUCHSVOLLSTEN FREE SOLOS ALLER ZEITEN GEKLETTERT. ER TAT ES, UM SEINE URKRÄFTE ZU WECKEN – UND DEM LEBEN IN SEINER GANZEN INTENSITÄT ZU BEGEGNEN.

 

Herbert, erst mit 25 Jahren hast du mit dem Klettern begonnen. Warum so spät?

In meiner Jugend habe ich mich aufs Langlaufen konzentriert. Dann hatte ich einen Autounfall. Als ich während der Reha keinen Sport machen konnte, hat mich ein Freund als Sicherungspartner mit zum Klettern genommen. Dort sah ich, wie mühelos die Jungs senkrechte Wände hochkletterten und war sofort fasziniert.

Nach der Reha bist du dann selbst eingestiegen?

Ich konnte es kaum erwarten! Aber es war ein ziemlicher Dämpfer. Ich dachte, ich wäre topfit. Dabei konnte ich mich nicht mal richtig in die Wand ziehen. Nie zuvor hatte mich eine Sportart so beansprucht, mich körperlich und mental so hergenommen wie das Klettern.

Trotzdem bist du bereits nach sechs Monaten Schwierigkeitsgrade von 9+ geklettert. Wie konnte es so schnell nach oben gehen?

Mir war früh klar, dass die körperlichen Voraussetzungen zwar der Grundstein sind, dass der entscheidende Faktor aber die Fingerkraft ist. Also habe ich daran gearbeitet, meine Sehnen und Bänder an die Belastung zu gewöhnen.

Und du hattest zweifellos ein besonderes Talent …

Ich bin der Meinung, dass jeder Mensch eine besondere Gabe hat. Es gibt mit Sicherheit Menschen, die ihr ganzes Leben im Büro verbringen, obwohl sie die Gene und muskulären Voraussetzungen zu einem Supersprinter oder Radrennfahrer hätten. Man könnte sagen, dass mich am Ende ein Autounfall zum Klettern gebracht hat. Und ich bin davon überzeugt, dass ich fürs Klettern gemacht bin. Es ist das einzige, was ich wirklich gut kann. Hier fühle ich mich körperlich und seelisch rundum wohl.

Du hast schon bald mit dem ungesicherten Klettern ohne Seil begonnen. Warum?

Die Idee, seilfrei zu klettern, entsteht meistens aus einer Trainingssituation. Du bist eine Route viele Male erfolgreich geklettert und spürst noch Reserven. Du hast dir die körperliche und mentale Basis geschaffen und fasst schließlich den Entschluss, das Seil wegzulassen.

Wie lange reift so ein Entschluss?

Das kann Monate oder sogar Jahre dauern. Es ist niemals eine fixe Idee. Das wäre fahrlässig. Es ist eher ein Dialog mit dem kleinen Männchen im Kopf, hinten im Kompetenzzentrum für Innere Sicherheit und Überleben. Das meldet sich und haut auf den roten Knopf, wenn du eine lebensbedrohliche Aktion planst.

Was nicht viel bringt, du machst es ja trotzdem …

Aber nur, weil ich es unbedingt will. Deshalb bearbeite ich das Männchen so lange mit positiven Argumenten, bis es irgendwann sagt: Ja, leck’ mich am Arsch – dann mach’ doch was du willst!

Warum willst du dich in Lebensgefahr bringen?

Es ist nicht die Gefahr, die ich suche. Sondern die Bestätigung meiner Fähigkeiten. Ein Laie sieht einen verrückten Kletterer in einer Felswand, er sieht nur die Konsequenz eines Fehlers. Ich wiederum sehe die machbare Aufgabe. Es ist keine Todessehnsucht, sondern eine Sehnsucht nach dem Leben in seiner intensivsten Form.

Wie fühlt sich das an?

Du lebst bis in die letzte Faser. Du spürst, dass es um dein Leben geht und setzt Energien frei, die du im Alltag niemals abrufen könntest. Dein Körper beschränkt sich auf die wesentlichen Funktionen – alles andere wird ausgeblendet. Plötzlich kannst du deine Kraft auf bestimmte Körperteile konzentrieren, auf einzelne Griffe und Züge. Es ist, als würde deine gesamte Energie in einen Arm oder sogar in einen Finger fließen. Für mich ist das eine Urkraft, die jeder Mensch in sich hat.

Kann man diese Urkraft trainieren und gezielt in anderen Situationen abrufen?

Eine Mutter kann diese Kraft sicherlich mobilisieren, um ihr Kind zu beschützen. Aber der Mensch ist nicht dafür gemacht, seine Urkraft für einen längeren Zeitraum oder öfter einzusetzen. Nach einer intensiven seilfreien Begehung bin ich drei oder vier Tage zu nix zu gebrauchen. Ich benötige mehr Zeit als sonst, um meinen Akku wieder aufzuladen.

Wenn man dich in deinem Keller beim Trainieren sieht, erinnert das auch an eine Art Urkraft. Dort stemmst du stundenlang riesige Eisengewichte …

Ich bin ein Mensch, der das Raue braucht. Ich könnte nicht in einem klimatisierten Studio trainieren. Mein Keller ist ein feuchtes, kaltes Loch, in dem sich die Asseln gute Nacht sagen. In so einem Umfeld kann ich am besten an meine Grenzen gehen. Trainieren hat für mich nichts mit Wohlfühlen zu tun.

Es heißt, du hältst nichts von Trainingsplänen. Warum nicht?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine Trainingsmethode gibt, die für jeden gleich gut ist. Wir sind alle verschieden. Außerdem werde ich nicht an einem wolkenlosen Herbsttag daheim bleiben, nur weil auf meinem Trainingsplan „Ruhetag“ steht. Mein Körper sagt mir schon, wann er eine Pause braucht.

Wie oft und wie intensiv trainierst du?

Im Winter sechs Mal die Woche, drei bis vier Stunden im Kraftkeller. Dann bin ich noch draußen unterwegs, mache Skitouren oder gehe Skifahren.

Und im Sommer?

Bin ich den ganzen Tag am Fels – klettere nach Möglichkeit 30 bis 40 Seillängen im oberen neunten Grad.

Das hört sich nach einem ziemlich harten Programm an …

Klar! Aber durch das Verausgaben lade ich mich direkt wieder positiv auf. Das funktioniert wie bei einem Fahrrad-Dynamo. Du trittst in die Pedale und erzeugst dabei Energie. Ich sehe es als Privileg, trainieren zu dürfen. So setze ich laufend neue Kräfte frei.

 

 

Im Jahr 2006 hast du nach der seilfreien Begehung der Route „Hornhaut ade“ beschlossen, eines Tages dein persönlich „maximal Machbares“ zu erreichen. Was genau hatte es mit diesem Beschluss auf sich?

Eine Route im zehnten Schwierigkeitsgrad sind zu dieser Zeit vielleicht drei oder vier Menschen auf der ganzen Welt seilfrei geklettert. Trotzdem hatte ich bei dieser Begehung nicht das Gefühl, meine mentale Grenze erreicht zu haben. Deshalb habe ich mir ein abschließendes Projekt in den Kopf gesetzt, die seilfreie Besteigung zweier Routen im zehnten Schwierigkeitsgrad: „Megawaspman“ und „Einstein“. Bei beiden ist die schwierigste Stelle ganz oben. Das ist eine besondere Herausforderung für den Kopf. Unterwegs darf nichts schiefgehen, was dich so schwächt, dass du die Schlüsselstelle nicht mehr überwinden kannst.

»Natürlich hat man eine Verantwortung seiner Familie gegenüber. Aber man hat auch eine Verantwortung seinen Träumen gegenüber.«

Herbert Ranggetiner

Im Februar 2015 war es schließlich so weit. Du bist die Route „Megawaspman“ ohne Seil geklettert. Wie hast du dich darauf vorbereitet?

Ich bin die Route zehn Mal am Tag mit Seil geklettert, immer wieder, mit einer drei Kilo schweren Gewichtsweste. Körperlich war ich in der Lage, die Route ohne Seil zu klettern. Fünfzig mal bin ich mit Seil nicht mehr rausgefallen. Nun hing es nur noch am Kopf, den ich an diese Situation heranführen musste. Am Ende ist es ein einfaches Spiel: Mensch, Wand – fertig.

Und die entscheidende Stelle bei dieser Route ist wirklich ein Sprung?

Ja, für einen Augenblick bist du mit Füßen und Händen in der Luft. Du legst alle Energie in den Sprung. Um darauf zu vertrauen, dass du Bruchteile einer Sekunde später mit ein paar Fingern auf dem Aufleger hängen bleibst.

Dieser eine Augenblick entscheidet über Leben und Tod. Was geht da in dir vor?

Man könnte es neumodisch als den absoluten Flow bezeichnen. Es ist die volle Intensität, ein reines und pures Gefühl, ein unvergessliches, gelebtes Abenteuer.

Was sagt deine Familie dazu, dass du dafür dein Leben riskierst?

Natürlich hat man eine Verantwortung seiner Familie gegenüber. Aber man hat auch eine Verantwortung seinen Träumen und seinem Leben gegenüber. Meine Frau sagt selbst: Sie ist meine Lebenspartnerin, nicht der Mensch, der mein Leben bestimmt. Und sie hat immer auf meine Fähigkeiten vertraut.

Einen Tag nach der Begehung des „Megawaspman“ sollte die Route „Einstein“ bei Matrei mit einem Schwierigkeitsgrad von 10+ folgen. Die letzte deiner seilfreien Begehungen. Aber es kam nicht dazu. Was ist passiert?

An diesem Tag bin ich die Route noch einige Male mit Seil geklettert. Es lief perfekt, beinahe locker. Auf dem Weg zur Wand war ich mir zu hundert Prozent sicher, dass ich ohne Seil einsteige. Aber plötzlich kam eine Eingebung und sagte: nein. Im gleichen Moment stand fest, dass ich nie wieder ohne Seil klettern würde.

War das der Moment des „maximal Machbaren“, nach dem du immer gesucht hattest?

Es war der intensivste Moment meines Lebens. Es waren ja Fotografen und Kameraleute da, Freunde von mir, die alle ziemlich ungläubig geschaut haben. Aber mein Bauchgefühl war schon immer mein stärkster Trumpf. Ein Gefühl, das die meisten Menschen heutzutage leider verloren haben, weil sie nur mit dem Strom schwimmen und die Komfortzone nach Möglichkeit nicht verlassen.

Und was kommt jetzt?

Eine ganze Menge! Nur mache ich mir keinen Druck mehr. Und gerade beim Klettern in schweren Linien ist mentale Gelassenheit oftmals eine größere Stärke als der unbedingte Wille.

Werden dir die intensiven Momente des seilfreien Kletterns nicht fehlen?

Es war ein wichtiger Teil meines Lebens, nicht mehr und nicht weniger! Ich bin ja auch weiterhin in schweren Routen unterwegs – jetzt eben nur noch mit Seil. Aber meine Nummer eins war und ist immer die Familie. Mit den Kindern in einen Bergsee springen, gemeinsam lachen und sie heranwachsen zu sehen … etwas schöneres gibt es nicht.

Interview by Axel Rabenstein, published in SPORTaktiv 3/2015

 

HERBERT RANGGETINER WURDE AM 13. APRIL 1969 IN MITTERSILL GEBOREN. IHM GELANGEN MEHR ALS 600 ERSTBEGEHUNGEN IN GANZ EUROPA, VON DENEN 60 BIS HEUTE VON KEINEM ANDEREN KLETTERER WIEDERHOLT WERDEN KONNTEN. SEINE FREE SOLOS (OHNE SEIL) BIS ZU EINEM SCHWIERIGKEITSGRAD VON 10 (UIAA) MACHTEN IHN AUCH AUSSERHALB DER KLETTERSZENE BEKANNT, OBWOHL ER SEINE BEGEHUNGEN NUR SELTEN MEDIAL INSZENIERTE.

 

Photos: Herbert Ranggetiner