HAILE GEBRSELASSIE WURDE ALS LÄUFER ZUR LEGENDE. IM INTERVIEW VERRÄT ER, WARUM ER IMMERZU LÄCHELT. UND WAS WIR VON DEN ÄTHIOPIERN LERNEN KÖNNEN.

 

Guten Morgen, trinken Sie keinen Kaffee?

Warum fragen Sie?

Weil Sie aus Äthiopien kommen, genauso wie der Kaffee.

Ja, richtig. Äthiopien ist die Heimat des Kaffees. Aber ich trinke ihn lieber nach dem Frühstück.

Schön, dann können wir uns so lange über etwas anderes unterhalten. Ich möchte mit Ihnen über das Lächeln sprechen.

Über das Lächeln?

Ja. Es ist früh am Morgen, Sie haben einen langen Tag vor sich und können nicht einmal in Ruhe frühstücken. Was gibt es da zu lächeln?

Ich glaube, es ist angeboren. Ich habe schon immer gelächelt. Ich weiß nur, als ich als Junge in die Schule ging, hatte ich manchmal sogar Probleme wegen meines Lächelns. Wenn ich einen Fehler gemacht habe und der Lehrer deswegen geschimpft hat, habe ich trotzdem gelächelt. Dann sagte er: Hey, du machst dich über mich lustig, hör auf zu lachen! Und ich habe gelächelt. Und dann schimpfte er noch mehr. Und die anderen Schüler sagten: Schaut mal, der Haile macht sich einen Spaß mit dem Lehrer. Der Haile ist lustig. Aber der Lehrer fand das überhaupt nicht lustig. Er schimpfte immer weiter. Und ich habe gelächelt.

Und dann?

Naja, am Anfang dachten die Lehrer wirklich, ich mache mich über sie lustig. Aber irgendwann haben sie sich dann daran gewöhnt, dass ich einfach immer lächle. Dann haben sie es mir auch nicht mehr übel genommen und das war gut so. Denn ich kann es wirklich nicht ändern.

Woher kommt es denn, das Lächeln? Aus dem Bauch?

Ich weiß es nicht. Es sitzt tief in mir, in der Brust, im Herzen, einfach überall. Ich kann es nicht zurückhalten. Das wäre auch nicht gut. Das Lächeln quillt einfach aus mir heraus, und ich lasse es geschehen.

»Ich lächle eigentlich immer.«

Haile Gebrselassie

Macht Laufen glücklich?

Ja, wirklich, das mag einer der Gründe sein. Laufen schafft eine tiefe Zufriedenheit im Körper. Der Puls bei Läufern ist ruhiger, die Blutversorgung ist besser. Man ist ausgeglichener und schläft viel besser. Außerdem produziert der Körper beim Laufen viele Glückshormone. Und die machen glücklich. Das ist ja logisch…

Ist es auch logisch, dass Afrikaner die besten Läufer sind? Warum seid ihr auf langen Strecken einfach unschlagbar?

Ein großes Plus ist die Höhe, auf der wir leben. Die Hochebene Äthiopiens zum Beispiel 
liegt auf bis zu viertausend Metern
über dem Mee
resspiegel. Unser
 Blut kann deshalb
 viel mehr Sauerstoff transportie
ren. Das ist auch ein
 Grund, warum die Läu
fer aus Afrika nicht lange in Europa bleiben. Schon
 nach einem Monat wird das 
Blut schlecht. Außerdem sind 
wir es von Kindheit an gewohnt zu laufen. Ich selbst bin auf dem Land groß geworden. Zur nächsten Wasserstelle waren es zwei Stunden, bis zur Schule ungefähr zehn Kilometer. In der Regenzeit waren wir wirklich in Eile, wenn wir rechtzeitig zur ersten Stunde kommen wollten. Unterwegs gab es einen Fluss, und wir mussten am Ufer rauf und runter laufen, um eine geeignete Stelle zu finden, an der wir ihn überqueren konnten.

Und auf diesem Schulweg entwickelte sich der Wunderläufer Gebrselassie?

Ja, der Weg in die Schule war ein fantastisches Training. Und das wirkt sich bis heute auf meinen Laufstil aus. Mein linker Arm ist beim Laufen noch immer etwas statischer. Unter den hatte ich die Schulbücher geklemmt.

Das hat sich nie wieder ausgeglichen?

Nicht richtig. Aber mein anderer Arm ist mit der Zeit schon etwas muskulöser geworden. Weil ich mit der rechten Hand immer Autogramme schreiben muss.

Ist es der Traum vieler Schulkinder, später ihr Geld als Läufer zu verdienen?

Für viele Jugendliche in Ländern wie Äthiopien oder Kenia ist das Laufen wohl der einzige Weg aus der Armut. Aber: Es ist ein langer und harter Weg.

Ihnen ist es trotzdem gelungen. Als kleines Kind haben Sie mit vier Brüdern und fünf Schwestern in einer Lehmhütte gewohnt. Sie haben Ziegen und Schafe gehütet. Heute sind Sie weltberühmt, in Ihrem Land sind Sie ein Star. Lächeln Sie auch, wenn Sie mal einen schlechten Tag haben?

Ja, ich lächle eigentlich immer. Selbst dann, wenn ich wegen irgendetwas sehr, sehr böse bin. Auch wenn es in mir brennt, trage ich ein Lächeln im Gesicht.

 

 

Wenn ich hierzulande in die U-Bahn steige, sehen mich die Leute an, als hätten sie allesamt nichts zu essen. Was glauben Sie, woran das liegt?

Die meisten Menschen in Europa arbeiten sehr hart und konzentriert. Sie sind niemals zufrieden, sie wollen immer mehr und noch mehr. Aber sie dürfen dabei das Lächeln nicht vergessen. Das Lächeln trainiert nicht nur die Muskeln im Gesicht, es ist auch gut für den ganzen Körper. Wer nicht lächelt, sieht schon mit Vierzig aus wie ein alter Mann.

 

 

Glauben Sie, dass die Menschen in Äthiopien mehr lächeln als in Europa?

Wo auch immer in Äthiopien Sie hingehen, Sie werden überall fröhliche Gesichter entdecken. Die Menschen lachen und lächeln. Sie sind zufrieden, sie sind glücklich, dass sie leben dürfen. Ganz egal, wie arm sie sind. Sie begegnen dem Leben mit Demut, denn schließlich ist es ein großes Geschenk, auf dieser Welt zu sein.

Lächeln die armen Menschen in Äthiopien vielleicht auch deshalb mehr, weil es nichts kostet?

Das ist möglich. Wer viel Geld hat, kann sich teure Sachen kaufen und daran erfreuen. Wer kein Geld hat, dem bleibt nicht viel. Aber er kann singen, tanzen … und lachen.

»Es geht um Respekt.«

Haile Gebrselassie

Es heißt, Sie verdienen das Zehntausendfache eines durchschnittlichen Äthiopiers. Gibt es da keinen Neid?

Überhaupt nicht! Wenn ich in meinem Mercedes durch Addis Abeba fahre …

In Ihrem Mercedes?

Ja, an dem hänge ich sehr. Ich
 habe ihn für meinen ersten Weltmeistertitel bekommen. Das war 1993 in Stuttgart. Er hat jetzt so um die acht- zigtausend Kilometer auf dem Tacho, ist also noch so gut wie neu.

Sie fahren mit einem Mercedes durch Addis Abeba und ihre Landsleute sind nicht neidisch?

Nein, wirklich nicht. Wenn ich durch die Straßen fahre, winken mir die Menschen freundlich zu und rufen: Haile, Haile! Klar, wenn ich an einer Ampel halte, dann kommen sie alle angelaufen. Da stehen dann viele Menschen um das Auto, sie strecken ihre Köpfe durch das Fenster und betteln: Haile, wir haben nichts zu essen, komm schon, gib uns ein bisschen Geld! Dann mache ich einen Witz und sage: Hey, ich habe doch gar kein Geld. Dann lachen die Leute.

Sie lachen?

Ja, natürlich. Sie freuen sich, ganz egal ob ich ihnen ein paar Münzen gebe oder etwas mehr oder weniger oder auch nichts. Was macht das schon für einen Unterschied? Die Leute sind gut drauf. Hauptsache ist doch, dass wir ein bisschen plaudern und ein paar Witze reißen, ehe ich weiterfahre, so haben alle gute Laune. In meinem Land leben die Armen und Reichen nebeneinander. Einige meiner direkten Nachbarn sind so arm, dass sie an manchen Tagen nicht genug zu essen haben. Keine dreißig Meter von meinem Haus leben arme Menschen. Wirklich, sehr arme Menschen. Aber wir gehören trotzdem zusammen. Wenn eine Hochzeit oder ein Geburtstag gefeiert wird, laden wir uns gegenseitig ein.

Wie kommt das?

Es geht um Respekt. Ich habe mehr Geld als viele meiner Mitmenschen. Aber ich habe es mir hart verdient. Ich habe hart dafür gearbeitet. Und die Leute wissen das und sie respektieren es. Sehen Sie, das ist auch der Grund, warum in Äthiopien Christen und Moslems friedlich und ohne Probleme zusammenleben. Die Menschen respektieren sich. Und genauso ist es auch zwischen den Armen und Reichen.

Haben Sie als einer der Reichen denn schon etwas unternommen, den armen Menschen in Ihrem Land zu helfen?

Natürlich! Immer, wenn ich ein Rennen gewinne, freuen sich sechzig Millionen Äthiopier. So mache ich die Menschen in meinem Land glücklich, ganz einfach, indem ich laufe. Selbstverständlich versuche ich, von meinem Geld auch meinem Land etwas abzugeben und den Menschen zu helfen. Ich unterstütze finanziell den Bau und den Erhalt von Schulen und einige soziale Einrichtungen. Außerdem habe ich in Addis zwei Geschäftszentren eröffnet, dort haben ein paar Hundert Menschen Arbeit gefunden.

 

 

Ist das nicht trotzdem nur ein Tropfen auf den heißen Stein? Der Name »Haile« heißt übersetzt so viel wie Kraft oder auch Macht. Was würden Sie denn ändern, wenn Sie die Macht dazu hätten?

Eine ganze Menge. Ich würde dafür sorgen, dass den Menschen in meiner Heimat endlich ausreichend Bildung garantiert wird. In Äthiopien liegt die Analphabetenrate bei 65 Prozent. Egal, ob jung oder alt – ich würde sie alle in die Schule schicken. Ich würde allen auftragen zu lernen und hart zu arbeiten.

Ob sie dann weniger lächeln würden?

Ich glaube nicht. Wahrscheinlich würden die Äthiopier dann sogar noch mehr lächeln. Mit einer vernünftigen Ausbildung hat man schließlich auch weniger Probleme im Leben. Sehen Sie, Äthiopien ist ein fruchtbares Land. Aber den Menschen fehlt leider das Wissen, diesen Reichtum zu nutzen.

Was müssen die Äthiopier sonst noch lernen?

Sie müssen lernen, stolz auf ihr Land zu sein. Äthiopien ist ein fantastisches Land. Es gibt Gebirge, das Rift Valley, die Nilfälle. Wir haben eine uralte Kultur mit orthodoxen Kirchen und alten Königsstädten im Norden des Landes. Das Klima ist angenehm und die Äthiopier sind schöne und freundliche Menschen. Wissen Sie eigentlich, dass es in unserem Land tropische Regenwälder und eine einzigartige Tierwelt gibt?

Nein, bei Äthiopien denke ich an Krieg und Armut.

Sehen Sie … auch die Europäer haben noch viel zu lernen.

Interview by Axel Rabenstein, published in TOPTIMES 2/2007

 

HAILE GEBRSELASSIE WURDE AM 18. APRIL 1973 IN ASELA IN DER PROVINZ ARSSI IN ÄTHIOPIEN GEBO- REN. MIT 16 JAHREN ZOG ER IN DIE HAUPTSTADT ADDIS ABEBA, MIT 17 BEGANN ER IM LEICHTATHLETIKVEREIN DER POLIZEI MIT DEM LANGSTRECKENLAUFEN. 1993 WURDE ER IN STUTTGART ERSTMALS WELTMEISTER ÜBER DIE 10.000 METER. IM LAUFE SEINER KARRIERE HOLTE ER ZWEI OLYMPIASIEGE, ZEHN WELTMEISTERTITEL UND STELLTE 26 WELTREKORDE AUF.

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Photos: Alamy, PowerBar, Axel Rabenstein