SIE BEGIBT SICH IN LEBENSFEINDLICHE REGIONEN. WEIL SIE DAS LEBEN SO SEHR LIEBT. UND SO HAT GERLINDE KALTENBRUNNER AUF DEN GIPFELN DER 14 ACHTTAUSENDER DIESER ERDE IHRE GANZ PERSÖNLICHE ERFÜLLUNG GEFUNDEN.

 

Gerlinde, Jahr für Jahr zieht es Sie auf die höchsten Gipfel der Erde. Können Berge rufen?

Also mich rufen sie fast jeden Tag. Auch, wenn ich glaube, dass ich die Liebe zu den Bergen schon immer in mir hatte. Aber als ich mit 23 Jahren auf dem Vorgipfel des Broad Peak stand, da wusste ich ganz sicher, dass ich immer wieder kommen würde.

Mit Erreichen des Gipfels des berüchtigten K2 im August 2011 sind Sie die erste Frau, die alle 14 Achttausender der Erde ohne Sauerstoff bestiegen hat. Ist das Leben nicht zu wertvoll, um es fortlaufend aufs Spiel zu setzen?

Eben darum tue ich es … weil ich das Leben so sehr liebe! Ich bin langsam in die Berge reingewachsen, für mich ist das alles gar nicht so extrem, wie es für andere aussehen mag. Zum Großteil habe ich alles unter Kontrolle, ich bin immer gut vorbereitet und gehe sehr vorsichtig mit meinem Leben um. Auch, wenn ich mich in Gegenden bewege, die nicht jeder begehen kann.

»Ich suche die hohen Berge, diese grandiosen Dimensionen, die man im Himalaya und im Karakorum erlebt.«

Gerlinde Kaltenbrunner

Leben Sie intensiver als andere?

Ich weiß nicht, wie intensiv andere leben. Aber ich bin mir sicher, dass ich viele Momente erlebe, die besonders intensiv sind. Sie gehen so tief, dass ich mich voll und ganz erfüllt fühle. Von diesen Momenten kann ich sehr lange zehren.

Sind das die Momente, für die Sie leben?

Sie tragen sicher dazu bei, dass ich mit meinem Leben zufrieden bin. Aber wichtig ist vor allem Gesundheit und dass ich mit den Menschen sein kann, die mir wichtig sind.

Was sagen diese Menschen dazu, dass Sie sich so oft in Gefahr begeben?

Die haben sich dran gewöhnt. Natürlich sind sie immer wieder in Sorge, aber mittlerweile wissen sie, dass ich nicht alles herausfordere, dass ich auch kurz vor dem Ziel noch umdrehen kann.

Trotzdem heißt die Höhe über 7.000 Metern aufgrund ihrer niedrigen Sauerstoffkonzentration nicht zu Unrecht die „Todeszone“. Suchen Sie die Nähe des Todes?

Ich habe mir noch nie Gedanken darüber gemacht, ob ich die Nähe des Todes suche. Ich muss auch gar nicht ans Limit gehen, das ist nicht meine Art. Ich suche die hohen Berge, diese grandiosen Dimensionen, die man im Himalaya und im Karakorum erlebt. Die Berge strahlen so eine Kraft und Wucht aus, das taugt mir einfach wahnsinnig.

Im Mai 2007 haben Ihnen die hohen Berge beinahe das Leben gekostet, sie wurden am Dhaulagiri von einer Lawine verschüttet. Wie haben Sie das erlebt?

Ich war mir hundertprozentig sicher, dass mein Zelt an einem sicheren Platz steht, drei Meter neben zwei bekannten Spaniern. Kurz vor neun Uhr vormittags hat‘s mich dann weggerissen, ich konnte überhaupt nicht denken, habe nur realisiert, dass ich irgendwann zum Stillstand kam. Das war ein ewiger Moment, auch wenn er vielleicht nur kurz war. Und auf einmal habe ich gemerkt, dass ich lebe. Ich hatte keine Ahnung, wo unten und oben ist, aber ich spürte, dass ich mich bewegen kann und nicht voll einbetoniert bin. Es war ein Kampf, mich zu befreien, um wieder genug Luft zu kriegen. Dann sah ich Licht und merkte, dass ich es schaffen kann. Erst dann habe ich plötzlich Angst bekommen.

Die beiden spanischen Kollegen konnten leider nicht mehr gerettet werden können.

Ja, das war einfach nur schrecklich. Ich hatte Glück, weil mein Zeltboden nicht festgefroren war. Deshalb hat es mich mitgerissen und nicht an Ort und Stelle einbetoniert. Ich kann ihnen gar nicht sagen, was in mir vorgegangen ist, als wir Santiago und Ricardo tot geborgen haben.

Wie geht man mit so einer Tragödie um?

Ich habe viel mit anderen darüber gesprochen. Die beiden Spanier wurden verschüttet und ich nicht, meine Zeit war wohl noch nicht abgelaufen. Es hat eben so sein müssen und ich hab‘ mich damit abgefunden. Für mich war es nur wichtig, dass ich sofort wieder aufgebrochen bin. Ein Jahr später war ich dann wieder dort und habe mich noch einmal dem Platz gestellt, an dem das Unglück geschehen ist. Alle Spuren waren fort, keine Zeltreste mehr … einfach nichts. Als wäre nie etwas geschehen.

»Mir gefällt die Kälte, weil sie einsam ist.«

Gerlinde Kaltenbrunner

 

Warum zieht es Sie trotz solcher Erlebnisse immer wieder in diese Kälte?

Kälte ist mir lieber als Wärme, mehr als 30 Grad plus sind mir einfach zu heiß. Kälte kann ich regulieren, ich kann mich warm anziehen, damit ich nicht friere, auch wenn man bei -30 Grad natürlich aufpassen muss, dass die Nase nicht einfriert. Hitze bin ich ausgeliefert, mehr als ausziehen kann ich mich nicht. Mir gefällt die Kälte besser. Dort sind nur wenige Menschen, die Kälte ist einsam. Für mich gibt es nichts Schöneres als eine eisig kalte und sternenklare Nacht, wenn ich den Schnee knirschen höre.

Ist das auch das Erste, was Sie machen, wenn Sie auf einem Achttausender stehen? Genüsslich den Schnee knirschen lassen?

Es sind immer zwei oder drei Minuten, die gar nicht gesprochen wird. Ich fühle dann eine demütige Freude, eine tiefe Erfüllung, dort oben stehen zu dürfen. Es gibt nur die Wolken oder den blauen Himmel und die riesigen Sechstausender liegen irgendwo dort unten.

Wie lange kann man das genießen?

Man hat nicht viel Zeit. Bei Windstille kann es schon mal eine Dreiviertelstunde sein, aber auf dem Kangchendzönga waren wir mal nur gute zehn Minuten, dann mussten wir schon wieder runter. Die völlige Entspannung hat man erst im Basislager erreicht. Dort ist das eigentliche Ziel.

 

 

Welcher Berg ist für Sie DER Berg?

Ich denke, der Nanga Parbat, der hat’s mir schon angetan. Das Basislager ist eines der schönsten, es liegt mit 4.200 Metern relativ niedrig, auf einer Wiese mit Blumen und einem Bach. Und vom Gipfel blickt man 7.000 Meter direkt in die Tiefe bis runter ins Industal.

Wenn man als Normalsterblicher mal auf einen besonderen Berg klettern möchte? Haben Sie einen Tipp?

Es gibt überall schöne Berge! Wo ich herkomme, in Spital am Phyrn im südlichen Oberösterreich, kann ich den Bosruck empfehlen. Vom Grat hat man einen grandiosen Ausblick nach Norden und Süden. Wenn ich daheim bin, steig‘ ich immer wieder rauf, schau‘ runter.

Und dann?

Bin ich einfach nur glücklich.

Interview by Axel Rabenstein, published in TopTimes 3/2008

 

GERLINDE KALTENBRUNNER WURDE AM 13. DEZEMBER 1970 IN SPITAL AM PYHRN GEBOREN. DIE ÖSTERREICHERIN ZÄHLT ZU DEN ERFOLGREICHSTEN HÖHENBERGSTEIGERINNEN DER WELT. MIT 23 JAHREN STAND SIE IN 8.027 METERN HÖHE AUF DEM VORGIPFEL DES BROAD PEAK IN PAKISTAN. SEIT DER BESTEIGUNG DES NANGA PARBAT (8.125 METER) IM JUNI 2003 LEBT SIE AUSSCHLIESSLICH VOM PROFIBERGSTEIGEN. MIT DEM ERREICHEN DES GIPFELS DES K2 (8.611 METER) IST SIE DIE DRITTE FRAU DER WELT, DIE ALLE 14 ACHTTAUSENDER BESTIEGEN HAT UND DIE ERSTE, DER DIES OHNE ZUSÄTZLICH MITGEFÜHRTEN SAUERSTOFF GELANG.

WWW.GERLINDE-KALTENBRUNNER.AT

 

Photos: Daniel Bartsch; David Göttler; Fischer Sports