HERBERT NITSCH HAT DIE FREIHEIT GESUCHT. UND DIESE IN DER FASZINIERENDEN TIEFE DES MEERES GEFUNDEN. WAS DORT UNTEN SO SCHÖN IST? DASS ALLE MAL DIE LUFT ANHALTEN.

 

Wer in die Faszination des Freedivens eintauchen möchte, der findet in Herbert Nitsch den perfekten Gesprächspartner. Der Österreicher stellte während seiner aktiven Karriere 32 Weltrekorde in allen acht Disziplinen des Freitauchens auf, in denen es darum geht, mit einem einzigen Atemzug so lange wie möglich unter Wasser zu bleiben, so weit oder so tief wie möglich zu tauchen.

 

 

Nitsch war der erste Mensch, der ohne Hilfsmittel tiefer als 100 Meter tauchte. Sein im Jahr 2007 aufgestellter und bis heute offiziell gültiger Weltrekord in der Disziplin „No Limits“, bei der sich die Freitaucher von einem Schlitten in die Tiefe ziehen lassen, liegt bei 214 Meter.

Was macht diese lebensgefährliche Tiefe so anziehend?

„Es geht darum auszuloten, wie weit ich kommen kann. Zu was mein Körper fähig ist. Und was mein Geist dazu beitragen kann. Was ich zu erreichen versuche, ist die maximale Ökonomie des Körpers. Keinen Sauerstoff zu verschwenden und absolute Kontrolle über den Kreislauf zu haben. Du musst super entspannt sein. Es ist, als würdest du vor dem Abtauchen mit einem Lächeln auf den Lippen einschlafen. Es ist sehr still dort unten. Man fühlt sich ganz alleine, weit weg von allem an- deren, von allem Geschehen. Umgeben von diesen Wassermassen. Das Gefühl kann unheimlich schön sein. Aber es darf niemals beängstigend sein. Das würde Adrenalin ausschütten und wertvollen Sauerstoff verbrauchen.“

Ist unter Wasser auch die Freude über eine neue Rekordtiefe untersagt?

„Genau das ist die Schwierigkeit. Du musst dich mental so unter Kontrolle haben, dass du nicht reagierst. Du musst cool bleiben. Freude wäre fatal, sie kostet viel zu viel Sauerstoff. Es sind von unten noch gute drei Minuten, bis du wieder sicher an der Oberfläche bist.“

»Ich habe oft geglaubt, es würde nicht mehr weitergehen. Aber dann ist da eine Tür ... und auf einmal tun sich neue Möglichkeiten auf.«

Herbert Nitsch

Für das Training biete sich nahezu jeder Ort an. Er selbst übe gerne vor dem Fernseher, sagt er: „Vier Minuten atmen, dann ausatmen und vier Minuten mit leerer Lunge gar nicht atmen.“ Vor einem echten Tauchgang wird dann allerdings tief Luft geholt. Dabei füllen Apnoe-Taucher ihren Körper mit so viel Sauerstoff wie möglich.

„Wir nennen das Packing. Das ist eine spezielle Technik, bei der man mit dem Kehlkopf noch einmal fünf bis sechs Liter in die Lunge pressen kann. Zusätzlich zu den zehn Litern, die mir als Lungenvolumen zur Verfügung stehen. Das ist aber erst der Anfang. Ich habe oft geglaubt, es würde nicht mehr weitergehen. Ich dachte: Okay, das schaffst du nicht mehr. Aber dann ist da eine Tür, du gehst durch und auf einmal tun sich neue Möglichkeiten auf.
 Der Körper ist wirklich faszinierend. Nehmen wir die Milz. Erst vor zwei Jahren ist man darauf gekommen, dass sie beim Luftanhalten kontrahiert und sauerstoffangereichertes Blut ausschüttet. Meeressäuger haben eine sehr große Milz, und das ist einer der Hauptgründe, warum sie so lange tauchen können.“

Trotz monatelangen Trainings, um die 15 Liter Luft im Tank und der Milz als einer Art Reservekanister ist das Risiko beim Apnoe-Tauchen allgegenwärtig.

Rettungstaucher befinden sich in verschiedenen Tiefen im Wasser, kontrollieren den Zustand des Athleten, achten auf Auffälligkeiten. Könnten sie einen im Ernstfall nicht einfach mit ein wenig Sauerstoff versorgen?

„Das wäre nicht besonders sinnvoll. Wenn ich in großer Tiefe über ein Mundstück atme, mich verschlucke und nur etwas Wasser in die Lunge bekomme, hätte das einen Stimmritzenkrampf zur Folge. Das ist ein Schutzmechanismus des Körpers. Jeder kennt das, wenn er auf den Rücken fällt und keine Luft mehr bekommt. Ich könnte nicht mehr ausatmen, aber die Luft in meiner Lunge würde sich wegen des Druckunterschiedes mit jedem Meter Richtung Oberfläche weiter ausdehnen. Ganz oben würde ich wahrscheinlich aussehen wie ein Kugelfisch und wie ein Luftballon zerplatzen. Das würde ich mir gerne ersparen.“

Herbert Nitsch dominierte die Szene jahrelang. Immer wieder suchte er nach seinen Grenzen und verschob sein Limit. Bis es ihn dann doch erwischte.

Am 6. Juni 2012 tauchte er vor der griechischen Insel Santorin auf 253 Meter ab. Er befand sich bereits auf dem Weg nach oben, als er in einer Tiefe von 80 Metern offenbar so entspannt war, dass er einschlief. In 24 Meter Tiefe kam er wieder zu sich. Nun hätte er für etwa eine Minute einen Sicherheitsstopp einlegen müssen, damit Blut und Gewebe den angesammelten Stickstoff wieder abgeben können. Die Luft dafür hätte er wohl gehabt. Die Sicherheitstaucher dachten allerdings, er wäre bereits wegen Luftmangels ohnmächtig geworden und am Ertrinken. Deshalb brachten sie ihn ohne Stopp an die Oberfläche, mit schwerwiegenden Folgen: Herbert erlitt eine schwere Dekompressionskrankheit und mehrere Schlaganfälle, monatelang saß er im Rollstuhl.

Heute ist der ehemalige Berufspilot zu großen Teilen genesen. Seit 2014 taucht er wieder. Nicht mehr so tief. Nicht mehr am Limit. Aber noch immer mit der Begeisterung für einen Sport, den er uns allen ans Herz legt.

„Die meisten Tauchunfälle geschehen im Zusammenhang mit Flaschentauchern, die in Panik an die Oberfläche kommen. Wenn man sich mit dem Freitauchen beschäftigt, ist man viel ruhiger unter Wasser. Man weiß, dass man minutenlang ohne Sauerstoffzufuhr auskommen wird. Selbst wenn man zuvor ausgeatmet hat. Das schenkt dir Gelassenheit. Außerdem kann es sehr entspannend sein, einfach mal nicht zu atmen. Man glaubt gar nicht, wie viel Lärm so ein Atemgerät unter Wasser macht. Das schreckt die Fische ab. Wenn ich nur mit Brille und Flossen unterwegs bin, schwimmen mir manche Fische sogar nach. Ein Flaschentaucher geht in den Zoo, ein Freitaucher begibt sich in den Dschungel. Jeder kann es versuchen: Nach ein paar Wochen Training ist es überhaupt kein Problem mehr, zwei oder drei Minuten unter Wasser zu bleiben. Und sich dort unten auf mühelose Weise in einer eigenen, dreidimensionalen Welt zu bewegen.“

Excerpts / Interview by Axel Rabenstein, published in TOPTIMES 3/2009

 

HERBERT NITSCH IST WELTREKORDHALTER IM FREITAUCHEN UND „DER TIEFSTE MANN DER WELT“. DIESEN PRESTIGETRÄCHTIGEN TITEL ERHIELT ER, ALS ER IM JAHR 2007 IN DER DISZIPLIN „NO LIMIT“ DEN WELTREKORD IM FREITAUCHEN MIT EINER TIEFE VON 214 METER AUFSTELLTE. ER ÜBERTRAF SEINEN WELTREKORD MIT EINEM NO-LIMIT-TAUCHGANG (2012) AUF 253 METER, BEI DEM ER ALLERDINGS VERUNGLÜCKTE (S. TEXT). ER IST DER EINZIGE FREEDIVER DER WELT, DER IN EINE TIEFE VON MEHR ALS 700 FUSS (213 METER) TAUCHTE. NUR SECHS FREITAUCHER TAUCHTEN ÜBERHAUPT TIEFER ALS 170 METER (560 FT), WOBEI ZWEI BEI DEM VERSUCH STARBEN. HERBERT KANN SEINEN ATEM FÜR MEHR ALS 9 MINUTEN ANHALTEN. IM LAUFE SEINER KARRIERE HAT ER 32 OFFIZIELLE WELTREKORDE IN ALLEN ACHT ANERKANNTEN DISZIPLINEN DES FREEDIVENS AUFGESTELLT.

WWW.HERBERTNITSCH.COM

 

Photos: Herbert Nitsch