JAHR FÜR JAHR TRIFFT SICH DIE SZENE DER BIG-WAVE-SURFER ZUM SHOWDOWN IN NAZARÉ, UM AUF DER HÖCHSTEN WELLE ALLER ZEITEN ZU SURFEN. LETZTE WASSERSTANDSMELDUNG IN SACHEN REKORDBRECHER: 24,38 METER.

 

Es beginnt vor Grönland oder vor der Ostküste der USA: Ein Sturmtief schaukelt jene Wellen auf, die sich auf die Reise über den Atlantik machen, um vor Portugal in einem 230 Kilometer langen, bis zu fünf Kilometer tiefen Canyon zu münden. Der Graben endet erst 300 Meter vor der Küste nahe dem Örtchen Nazaré. Hier prallt die Dünung gegen eine Unterwasserwand, baut gigantischen Druck auf und türmt Brecher von 30 Meter Höhe auf. Es ist ein magischer Ort, der einen in Anbetracht dieser Naturgewalt erschauern lässt – und aufgrund seiner einzigartigen Topografie jene Surfer anzieht, die es auf den Rekord der höchsten jemals gesurften Welle abgesehen haben.

Im November 2011 bezwang der US­Amerikaner Garrett McNamara hier eine Welle, deren Höhe auf knapp 24 Meter berechnet wurde. Es war ein Video, das um die Welt ging, auch deshalb, weil Nazaré bis dahin kaum jemand auf dem Zettel gehabt hatte. Seitdem ist das portugiesische Fischerörtchen, das in Sachen Wellenhöhe und Naturgewalt auch die legendären Sets von Jaws (Hawaii) oder Mavericks (Kalifornien) in den Schatten stellt, das neue Mekka der Rekordbrecher.

»In der Realität gibt es keine Angst, sie existiert ausschließlich in deinem Kopf. Ob du Angst hast oder nicht – ist ganz alleine deine Entscheidung.«

Garrett McNamara

Die Monsterwogen sind zu schnell, um sie mit bloßer Muskelkraft anzupaddeln. Die Surfer lassen sich von 400-PS-Jetski in die Wasserberge ziehen. „Diese Wellen haben eine rohe Energie“, sagt Big­Wave­Ikone McNamara. „Du bist so klein und dennoch eng mit ihnen verbunden. Diese Nähe zur Natur hat etwas Magisches.“

Wird dieses Gefühl der Nähe nicht von einem noch viel stärkeren Gefühl der Angst um das eigene Leben überspült? – „Andere Menschen reiten auf einem wilden Stier. Das würde ich nicht tun, das wäre mir zu riskant. Es klingt vielleicht seltsam, aber ich fühle mich in großen Wellen einfach wohl, nirgendwo sonst fühle ich mich so lebendig. Außerdem verspüre ich im Wasser keine Angst. Ich konzentriere mich auf den Moment und denke nicht darüber nach, was passieren könnte. In der Realität gibt es keine Angst, sie existiert ausschließlich in deinem Kopf. Ob du Angst hast oder nicht – ist ganz alleine deine Entscheidung.“

 

 

Auf einer der Wellen von Nazaré fühle es sich an, als fahre man auf einem Snowboard mit 80 km/h über vereiste Buckel – mit dem Unterschied, dass sich der Hang bewegt und schließlich auseinander­ bricht. Rund 500.000 Tonnen Wasser explodieren in weißer Gischt. Wer jetzt stürzt, der kämpft um sein Leben. „Es schleudert dich wie ein Sandkorn durchs Wasser“, beschreibt es McNamara: „Innerhalb einer Zehntelsekunde drückt es dich auf zehn oder fünfzehn Meter Tiefe. Das Trommelfell kann platzen. Dir ist schwindlig, du weißt nicht mehr, wo oben oder unten ist.“

Wichtigster Ratgeber: cool bleiben. Irgendwann lässt einen die Welle los. Dann heißt es Orientierung und den Weg nach oben suchen. Profis wie McNamara reduzieren ihre Schwimmbewegungen auf Armzüge, weil die Beine in der Relation zum Vortrieb zu viel Sauerstoff verbrauchen.

„Deine Lippen durchbrechen die Wasseroberfläche, du nimmst einen Atemzug, versuchst zu erkennen, ob eine weitere Welle anrollt und ob dein Partner auf dem Jetski in der Nähe ist, um dich aus der Gefahrenzone zu bringen. Wenn du in Sicherheit bist, hast du die Gnade des Ozeans gespürt – und fühlst dich lebendiger als je zuvor.“

Um so etwas zu erleben und zu überleben, bedarf es einer akribischen Vorbereitung. Mit Apnoe­-Kursen rüsten sich Big Wave Surfer für unerwünschte Aufenthalte unter Wasser, die meisten können wenigstens vier Minuten lang die Luft anhalten. Sie tragen eine Sauerstoffpatrone am Mann und eine Kevlar­-Schutzweste mit Airbag, der sich im Notfall aufbläst, um den Körper zurück an die Oberfläche zu bringen.

„Bei solchen Bedingungen zu surfen ist nicht immer nur Spaß“, sagt der Deutsche Sebastian Steudtner, der im Jahr 2010 als erster Europäer den „Billabong XXL Award“ für die größte gerittene Welle des Jahres gewann. 2015 wurde Steudtner sogar ein zweites Mal mit diesem „Oscar“ des Surfsports ausgezeichnet. „Du fokussierst dich voll auf deine Linie“, beschreibt er den Ritt auf einem 20-Meter-Ungetüm: „Wenn du die Fahrt unter Kontrolle hast, spürst du schubweise ein intensives Glücksgefühl, nach dem Ride entlädt sich dann die totale Euphorie.“

Auf der gleichen Erfolgswelle reitet das Örtchen Nazaré, verzeichnet immer wieder mehr monatliche Suchanfragen bei Google als die portugiesische Hauptstadt Lissabon. Zwischenzeitlich war sogar eine Werbeagentur damit beauftragt worden, einen eigenen Namen für die Welle zu finden und zu kommunizieren, denn das hatten die berühmten Wellen von Jaws (Schlund), Mavericks (Einzelgänger) oder Dungeons (Kerker) dem noch jungen, neuen Branchenprimus voraus.

Aber ein neuer Name ist gar nicht mehr nötig. Waren es vor Jahren noch diese und andere Spots wie Teahupoo oder Shipstern Bluff, die sich die Aufmerksamkeit teilten, konzentriert sich die breite mediale Öffentlichkeit inzwischen auf die Aktivitäten am Praia do Norte von Nazaré, wo der rote Leuchtturm zum Wahrzeichen des Wasser gewordenen Größenwahns avanciert ist.

Zweifellos werden hier die höchsten Wellen gesurft. Deren exakte Höhe lässt sich allerdings nur schwer berechnen. Das Wasser bewegt sich, Perspektiven müssen miteinander abgeglichen werden, zudem schaffen es die Surfer in Nazaré meistens gar nicht bis ins Wellental, womit die Bemessungsgrundlage fehlt. Manch einer kritisiert sogar, es würde sich um gar keine „echten“ Wellen handeln, weil die Wassermassen nicht sauber brächen, sondern unter ihrer eigenen Last zusammensackten.

Im Jahr 2013 surfte der Brasilianer Carlos Burle hier auf einer Welle, die an die 30 Meter hoch war. 2014 ritt der Brite Andrew Cotton auf einem ähnlich hohen Brecher. Im November 2017 wurde er dann so vehement von einer Welle geschleudert, dass er sich einen Lendenwirbel brach. Immerhin: Der Sturz wurde als massivster Wipe-out des Jahres mit einem XXL-Award ausgezeichnet. Inzwischen steht Cotton aber wieder; natürlich auf dem Board, und in den Brechern von Nazaré.

 

 

Es sind Bilder, die ein heroisches Image transportieren: Furchtlose Männer stechen wie Drachentöter ins Meer, um aus der Tiefe kommende Monster zu bezwingen. Für Sponsoren ein gefundenes Fressen, von Red Bull über Mercedes-Benz bis Nivea haben die Unternehmen dem Big-Wave-Surfen ihren Stempel aufgedrückt.

Das Ziel ist klar: die größte jemals gesurfte Welle für sich zu reklamieren. Jahr für Jahr stehen die Surfer bereit, um den Rekord ein weiteres Mal nach oben zu schrauben. Zuletzt war es der Brasilianer Rodrigo Koxa, dem eine Rekordwellenhöhe von 24,38 Metern zugesprochen wurde.

Derzeit steht also er ganz oben. Aber die Szene dürstet nach dem nächsten Rekordbrecher. Schickt die Natur eine geeignete Dünung nach Portugal, soll dann endlich die Marke von 25 Metern fallen. Und da der Klimawandel die Stürme im Nordatlantik immer heftiger werden lässt, wird der nächste Rekordbrecher nicht lange auf sich warten lassen.

Interviews by Axel Rabenstein, published in SPORTaktiv 3/2014; SPORTMAGAZIN 9/2016 

 

www.garrettmcnamara.com

www.sebastiansteudtner.com

www.andrewcotton.co.uk

 

Die 10 Surfspots mit den größten und gefährlichsten Wellen der Welt

Banzai Pipeline (Hawaii) Am Northshore von Hawaii gelegen, bricht diese knallharte Welle auf ein furchteinflößendes Riff, das von Löchern und kleinen Höhlen durchzogen ist. Neben dem Riff stellt auch das Line-Up eine Gefahr dar: Einige Locals verteidigen „ihren“ Spot extrem aggressiv.

Belharra (Frankreich) Diese Welle im Baskenland ist nur bei extrem hoher Dünung surfbar, in manchen Jahren bricht sie gar nicht. Erreicht bis zu 20 Meter Höhe und schiebt sich wie eine Lawine aus Wasser in Richtung Küste.

Cortes Bank (Kalifornien) Bricht an einer Untiefe auf offener See, ca. 160 Kilometer westlich von San Diego. Der US-Surfer Mike Parsons ritt hier 2008 eine auf 77 Fuß (23,5 Meter) geschätzte Welle.

Dungeons (Südafrika) In der Hout Bay bei Kapstadt entstehen an mehreren Riffen Wellen von 15 Meter Höhe. Der Spot ist berüchtigt, die bekannt hohe Population an Weißen Haien im eiskalten Wasser gerät hier zur Nebensache.

Jaws/Peahi (Hawaii) Lange Zeit der Hot Spot unter den Big Waves. Hier etablierte Surf-Legende Laird Hamilton das Tow-in- Surfen unter Zuhilfenahme eines Jetskis. Die Wellen sind bis zu 50 km/h schnell und erreichen 20 Meter Höhe.

Mavericks (Kalifornien) Südlich von San Francisco türmen sich die Wellen auf bis zu 25 Meter Höhe und brechen mit enormer Wucht. Im Jahr 1994 ertrank hier der Hawaiianer Mark Foo, 2011 verstarb der US-Profi Sion Milosky.

Nazaré (Portugal) Entsteht durch einen Unterwassercanyon und baut sich an der Küste zu Brechern von 30 Meter Höhe auf. Der Brasilianer Rodrigo Koxa hat hier den Weltrekord aufgestellt, auf einer Welle mit nachträglich berechneten 24,38 Metern.

Puerto Escondido (Mexiko) Besonders schnell brechende Welle an der Playa Zicatela, die zwar „nur“ rund 10 Meter Höhe erreicht, aber eine surfbare Pipeline bildet, die schließlich hohl und hart auf den fest gepressten Sandboden kracht.

Shipstern Bluff (Tasmanien) Am Ende der Welt und verantwortlich für einige der spektakulärsten Rides überhaupt. Wer hier surft, muss während der Fahrt über einen oder mehrere Steps springen, die sich in der Welle bilden.

Teahupoo (Tahiti) Die vielleicht schönste Welle der Welt. Bricht auf ein zum Teil nur 50 Zentimeter unter der Wasseroberfläche liegendes Korallenriff. Entwickelt eine extreme Hydraulik und bestraft selbst kleinste Fehler mit einem schweren Wipe-out.

 

Photos: Garrett McNamara; Sebastian Steudtner; Hugo Silva / Red Bull Content Pool